Remote-Arbeit: Fluch, Segen, beides zugleich?

Im Jahr 2019 habe ich als Webentwickler in einem alteingesessenen Unternehmen gearbeitet. Als die deutsche Bundesregierung die Arbeitgeber dazu aufrief, die Arbeitnehmer remote arbeiten zu lassen, wo immer dies möglich sei, bat ich um eben dies: Die Möglichkeit, von zu Hausen zu arbeiten. Dieser Wunsch lag in meinem Fall nicht nur in Covid begründet, sondern zu einem Großteil auch in meiner privaten Situation, die oftmals Flexibilität erfordert, die ich quasi nur durch Remote Work bekommen kann.

Mein Arbeitgeber genehmigte mir zwei bis drei Tage pro Woche, an denen ich von zu Hause aus arbeiten durfte. Darüber hinaus war leider nicht mehr möglich.

Meine Bitte, vollständig von zu Hause aus arbeiten zu dürfen, wurde abgeschlagen. „Hinten herum“ kam der Hinweis, dass zudem in absehbarer Zukunft wieder vom Büro aus gearbeitet werden müsse.

Wenig Flexibilität und Vertrauen

Aufgrund der nur bedingt vorhandenen Flexibilität, zu gleichem Teil jedoch auch aufgrund des fehlenden Vertrauens habe ich relativ schnell den Entschluss gefasst, mich anderweitig nach einem Job umzusehen, der „fully remote“, also zu 100% von zu Hause zu erledigen ist. Nach sehr kurzer Suche wurde ich fündig, und nach einer kurzen Vorstellungsrunde wurde mir ein Vertrag angeboten.

Meine Kündigung beim alten Arbeitgeber verlief reibungslos, und der Fairneß halber muss ich hinzufügen, dass man mich mit einer kürzeren als der vertraglich vereinbarten Kündigungsfrist gehen ließ.

Der neue Arbeitgeber ist Remote-Only

Mein neuer Arbeitgeber, die Agentur Startdowns in Bochum, ist remote-only aufgestellt. Das bedeutet, dass es in dieser Firma überhaupt kein Büro gibt, in das man zurückbeordert werden kann. Das gesamte Team arbeitet von dort, wo es der jeweiligen Person gefällt – die meisten arbeiten von zu Hause aus.

Und das ist nicht erst seit Covid so, sondern seit Gründung der Agentur. Damit ist das Mindset der Agentur und deren Management auch entsprechend.

Den Arbeitnehmer*innen wird vertraut, dass sie ihre Arbeit gewissenhaft erledigen. Es kommen keine „blöden Sprüche“ à la „Zu Hause macht der doch eh nichts.“. Ja, solche und ähnliche Sprüche habe ich schon öfter hören müssen. Und das trägt nicht unbedingt zu einer positiveren Arbeitseinstellung bei.

In meiner aktuellen Anstellung erlebe ich das komplette Gegenteil. Wir erfahren Vertrauen, Wertschätzung, Freiheit und Flexibilität. Natürlich müssen wir uns auch um die Belange der Kunden kümmern und uns nach den terminlichen Gegebenheiten der Kundschaft richten. So sind es denn auch an manchen Tagen einige Termine, die es zu managen gilt. Aber all dies ist immer noch deutlich mehr Freiheit, als ich sie in meinen vorhergehenden Vor-Ort-Jobs erfahren habe.

Die Presse hat Fragen

Das Thema scheint aktuell auch die Presse zu beschäftigen. Ich wurde mittlerweile von zwei Publikationen angesprochen und interviewt. Das erste Interview fand kurz nach meiner Kündigung statt.

Ich habe damals auf Twitter über meine Kündigung geschrieben (mit teilweiser Begründung), woraufhin ich von Sophia Epstein, einer Journalistin des wired-Magazins, angeschrieben wurde. Sie wollte meine Story in einem Beitrag des Wired-Magazins mit dem Titel „They’d rather quit than end the remote work dream“ erwähnen und stellte mir dazu am Telefon einige Fragen.

Da meine Geschichte in dem Beitrag jedoch nur einen Absatz lang ist, konnte ich nicht viel darüber sprechen, wie es ist, fully remote – also komplett von zu Hause – zu arbeiten.

Diese Möglichkeit ergab sich allerdings vor kurzem (im Dezember 2022), als ich von einem Produzenten der BBC angeschrieben wurde. Dieser fragte, ob ich mich bereit erklären würde, dem Programm „Talking Business“ auf BBC World News ein Interview zu geben. Das habe ich natürlich gerne getan – wenn auch mit einer ordentlichen Portion Nervosität.

In den etwa 70 Sekunden, auf die das Interview mit dem Produzenten zusammengeschnitten wurde, konnte ich etwas darüber erzählen, wieso ich gekündigt habe. Ganz zum Schluss durfte ich dann noch etwas über meine Gedanken zur Remote-Arbeit sagen.

Update: Seit dem 19.12.2022 ist nun auch ein kurzer Bericht dazu auf der BBC-Website verfügbar.
‚I quit my job rather than go back to the office‘.

Und das möchte ich, in etwas längerer Form, nun auch hier tun. Ich möchte erzählen, wie es mir mit der Arbeit von zu Hause aus geht. Wo liegen für mich die Vorteile, wo aber auch die Nachteile des Remote-Arbeitens? Worüber sollte man sich Gedanken machen, wenn man mit dem Gedanken spielt, vollständig von zu Hause aus zu arbeiten?

Warum ich diesen Artikel schreibe? Ich hoffe, damit Menschen zu helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Und Nachrichten wie diese ermutigen mich, genau das zu tun.

Vorteile von Remote-Arbeit

Für mich hat das Arbeiten von zu Hause, wie man an diesem Beitrag bisher unschwer erkennen kann, viele Vorteile. Zu diesen Vorteilen zählen für mich ganz besonders

  • Zeitliche Flexbilität für mich und meine Familie
  • Mehr Zeit für die Familie und mich
  • Wegfall des Arbeitsweges und damit verbunden
    • weniger Kosten für den PKW
    • kein Zeitaufwand für die Pendelstrecke
  • Gestaltungsfreiheit in der Arbeitsumgebung
  • Pausen, wann ich sie brauche – und nicht, wenn der Arbeitgeber sie vorschreibt

Nachteile von Remote-Arbeit

Natürlich hat jede Medaille zwei Seiten. So hat dann auch die Remote-Arbeit Nachteile. Und die sind nicht zu vernachlässigen. Man sollte sich daher Gedanken darüber machen, was der Remote-Job mit sich bringt und ob man mit den Nachteilen leben kann. Für mich sind diese Nachteile

  • Ablenkung. Es kann vorkommen, dass das „echte Leben (in Form von Familie, Nachbarn, Paketdienst) einen aus der Konzentration reißt
  • Freiwillige Mehrarbeit. Man sitzt schnell „nochmal kurz“ abends am Rechner, um die eine oder andere Sache noch fertig zu machen.
  • Andere Menschen nerven. Das gehört für mich zu den gröten Nachteilen, denn ich sitze nun wirklich den ganzen Tag zu Hause. Damit muss nicht nur meine Frau, sondern auch mein Teenie-Sohn zurecht kommen – und das kann schon dazu führen, dass den Personen die Ich-Zeit fehlt. Dessen muss man sich bewusst sein – und sollte das mit allen Beteiligten besprechen.
    Der Remote-Job beeinflusst das Leben des gesamten Haushalts.

Tipps für das Remote-Team

Mittlerweile arbeite ich seit 16 Monaten von zu Hause aus, und habe in dieser Zeit vieles über die Unterschiede zwischen Vor-Ort-Jobs und Remote-Arbeit gelernt. Aus Sicht eines Arbeitnehmers sind mir dabei einige Sachen besonders wichtig geworden, die sicherlich nicht nur für die Mitarbeiter*innen, sondern auch für die Leute im Management interessant sein dürften.

Individuell auf die Menschen zugehen

Im Büro sieht man täglich die Kolleg*innen und kann meist schon an deren Verhalten erkennen, wie es ihnen geht. Das ist bei der Remote-Arbeit nicht immer ohne weiteres möglich. Daher ist es wichtig, dass das Management mit den Mitarbeitenden spricht und erfährt, wie es ihnen geht, was sie bewegt und wie ihre Bedürfnisse sind.

Ist die Person überlastet oder gelangweilt? Ist sie ein eher ruhiger, introvertierter Typ und „geht unter“, ohne etwas zu sagen? Dann geh auf diesen Menschen zu. Sprich mit ihm. Schau nach, wie es dem Menschen geht. Zeige ernsthaftes Interesse und gehe auf die Bedürfnisse der Person ein.

Ich bin in dieser Hinsicht wirklich verwöhnt, denn angefangen von meinem Team-Lead bis hin zum Geschäftsführer sind alle Menschen einfach nur einzigartig und ehrlich daran interessiert, dass es mir gut geht.

Regelmäßige Gespräche (1 on 1)

Ich finde es ungemein wichtig, dass es die regelmäßigen Gespräche mit der vorgesetzten Person gibt. In meinem Fall finden diese alle zwei Wochen zu einer festgelegten Zeit statt. Und, ganz wichtig: Diese Gespräche finden in Form eines Video-Meetings statt. So kann ich sehen, wie mein Gegenüber auf meine Aussagen reagiert, erkenne die Mimik und gestik und kann mir, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Bild machen.

Diese Gespräche sollten sich allerdings nicht um die Erledigung von Aufgaben drehen (dafür sind andere Meetings da), sondern darum zu erfahren, wie es der anderen Person geht. Gibt es Wünsche, Sorgen oder Anregungen und Ideen? Wie ist es um die Person bestellt? Wie kann die Arbeitssituation für die Person verbessert werden?

In diesem Meeting gibt es nicht immer viel zu erzählen – aber es ist in meinen Augen wichtig, die regelmäßige Möglichkeit zu bieten, ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen.

Kaffeepausen mit den Kolleg*innen

Ich habe in den letzten Monaten damit begonnen, mit meinen Kolleg*innen virtuelle Kaffeepausen einzulegen. Das sind einfach nur kurze, meist maximal zwanzig Minuten dauernde Gespräche, in denen man über Gott und die Welt, das Management oder die Familie spricht. In etwa so, als würde man sich im Büro an der Kaffeemaschine unterhalten.

Klar, solche Meetings passen nicht immer, und ich schaffe das auch nicht jede Woche, aber ich versuche doch, mit manchen meiner Team-Kolleg*innen wenigstens zweimal im Monat kurz zu sprechen – einfach nur, damit man sich persönlich näher kommt und das „Team-Gefühl“ bestehen bleibt. Ein einfaches „Wie geht es Dir wirklich?“ bewirkt oft kleine Wunder – und gemeinsam erträgt man so manches einfach leichter.

Ziele für die Mitarbeitenden festlegen

Mache Mitarbeiter*innen, introvertierte oder schüchterne Personen oder Neuzugänge sind oftmals sehr still und bleiben gerne im Hintergrund. Ich gehöre zu dieser Personengruppe.

Damit diese Menschen nicht still und leise „aus dem Team fallen“, sich eventuell sogar unwichtig fühlen und irgendwann, trotz eines eigentlich perfekten Jobs, unzufrieden werden und das Unternehmen verlassen, sollte man mit ihnen gemeinsam einen Plan aufstellen und ihn verfolgen.

Wo möchte die Person in einem Jahr sein? Was sind ihre beruflichen Ziele? Wie sieht die Person ihre eigene zukünftige Entwicklung?

Eine individuelle Roadmap für die jeweilige Person sollte daher Standard sein – nicht nur im Remote-Working. Aber gerade in der Remote-Arbeit sollten diese Ziele aktiv verfolgt, besprochen, nachjustiert und am Ende auch erreicht werden. Die Mitarbeitenden sehen so, dass sie wertgeschätzt werden, dass sie wichtig und ihre beruflichen Ziele nicht egal sind.

Reunions – Treffen „im echten Leben“

Ab und an möchte man seine Kolleg*innen natürlich auch einmal im echten Leben treffen. Unsere Firma veranstaltet daher mindestens einmal im Jahr eine Reunion – ein Zusammenkommen aller Mitarbeitenden.

Aus ganz Deutschland reisen alle Kolleg*innen an und verbringen zwei bis drei Tage miteinander. Es wird gearbeitet (Fachbereichs-Vorträge, Wissensaustausch, Erarbeiten von unternehmenszielen), aber auch einfach nur Zeit zusammen verbracht.

Für mich sind diese Reunions eine schöne Möglichkeit, die Menschen hinter den Bildschirmen besser kennen zu lernen und das bisherige Verhältnis zu ihnen auf eine andere Ebene zu heben.

Fazit

Für mich und meine Umstände ist der Remote-Job das Beste, das mir passieren konnte. Und wenn dieser Job dann noch in einem Unternehmen ist, das es versteht, auf die Bedürfnisse der Einzelnen einzugehen, ihnen zu vertrauen und die Arbeitsprozesse auf diese Art von Arbeit auszulegen, ist es einfach nur perfekt.

Dazu braucht es aber auch Personal in Management-Positionen, das die Remote-Arbeit nicht nur toleriert, sondern fördert, sie lebt und den Menschen das Gefühl gibt, dass man ihnen vertraut.

Die richtigen Personen an die richtigen Positionen zu setzen ist – ehrlich gesagt – sicherlich schwierig. Gerade für alteingesessene, über Jahrzehnte gewachsene Unternehmen ist ein solcher Wechsel nicht immer einfach.

Aber gerade hier liegt auch die Chance, neues Blut und frischen Wind in alte Gemäuer zu bringen. Der Wandel wird nicht nur kommen – er ist schon da. Viele Untenehmen werden sich meiner Meinung nach umstellen müssen und den Mitarbeitenden zukünftig, wo es möglich ist, Remote-Arbeit anbieten müssen.

So sichern sich die Unternehmen nicht nur die Chance auf den benötigten Nachwuchs, sondern fördern vor allem die Zufriendenheit der Mitarbeitenden und damit die Chance auf eine geringere Fluktuation.


Artikelbild von Firmbee auf Pixabay

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